Schicks - buchstabenkino

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Diese Kurzgeschichte darf unter dem Motto „Arsch huh - Zäng ussenander!“ verstanden werden. Sie ist für mich gleichzeitig Spiegel aller positiven wie negativen Tendenzen in unserem heutigen Deutschland. Sie ist gleichzeitig Hoffnung und Resignation, Anklage und Ansporn, Wunsch und Verzweiflung. Und trotzdem findet sich wie in vielen meiner Geschichten ein Aspekt, der – wäre er real – diese Geschichte wahr werden lassen könnte. Und Spaß zu lesen macht sie Ihnen hoffentlich auch.

© Dirk Paulsen 2012
Jegliche weitere Verwendung  oder Verwertung durch Dritte, sei es analog oder digital, ist nur mit  ausdrücklicher schriftlicher Genehmigung des Autors gestattet.

            
Schicksals Lot
(In memoriam Mr. Michael Clark Duncan)

Es war stockdunkel und stank zum Erbrechen. So eng  aneinandergepresst, dass es ihm fast den Atem nahm, kauerte Aaron Shumba  inmitten seiner Landsleute. Das ständige Schaukeln hatte viele von  ihnen sofort seekrank gemacht, weil man die Bewegung zwar spürte, sie  aber nicht sehen konnte. Schon lange legte sich niemand mehr auf den  stählernen Boden des kleinen Frachtraums, der mit Urin und anderen  Flüssigkeiten bedeckt war. Sie waren auf so engem Raum eingepfercht,  dass Liegen ohnehin einem Übereinanderstapeln gleichkam. Das Schiff  stampfte seit zwei Tagen und Nächten in unruhiger See. Der riesige  Dieselmotor hinter der nächsten Stahlwand erfüllte ihren Tag mit  vierundzwanzigstündigem Dröhnen und die Schiffswelle heizte den Raum auf  über fünfzig Grad auf. Zu essen gab es nur das, was sie sich selbst  mitgebracht hatten. Wasser gab es einmal täglich aus schmutzigen Eimern,  die von der Schiffsbesatzung an Seilen vom Oberdeck herabgelassen  wurden. Der Geruch der Leiche, die man gerade erst aus dem Frachtraum  entfernt hatte, hing noch immer in der Luft und in ihren feuchten  Kleidern. Die Kinder hatten zu weinen aufgehört. Man flüsterte nur. Wenn  nicht einige Männer eine Armbanduhr getragen hätten, wäre ihnen das  Zeitgefühl schon völlig verlorengegangen. Doch auch jetzt wusste niemand  mehr genau zu sagen, ob es zwölf Uhr mittags oder Mitternacht war.
„Aaron, sing uns etwas!“, bat Sabélo, der keine zwei Meter  entfernt und doch fast unerreichbar zwischen Körpern eingekeilt hockte.
„Ja, Aaron, sing Shosholoza“, sagte ein anderer Mann, den  sie vor dieser abenteuerlichen Reise noch nie gesehen hatten. Weitere  Stimmen, auch von den Kindern, munterten Aaron auf, der sich nicht lange  bitten ließ. Seine Lieder aus der Heimat schufen Bilder in den Köpfen  seiner Leidensgenossen, die das unmenschliche Elend hier unten im  Frachtraum erträglicher zu machen schienen. Es wurde still, als Aaron  leise das alte Volkslied in seiner Muttersprache intonierte, die in  diesem stinkenden Abgrund alle verstanden. Einst sangen es die  Geknechteten in den  Minen, damit es ihnen Hoffnung geben möge. Tief  drang das Lied in die Herzen. Beim Refrain fielen einige Männer- und  Frauenstimmen ein, bildeten einen mehrstimmigen Chor.
Zwei weitere Tage und Nächte vergingen. Nur noch wenige  stimmten mit ein, wenn Aaron zu singen begann. Der besungene Mut hatte  fast alle verlassen und war einer stumpfen Lethargie gewichen.
Doch trotzdem bewegten die Lieder alle Gemüter. Eines der Kinder  weinte, jemand zog die Nase hoch. Als Aaron den Gesang beendete,  klatschten einige seiner Gefährten. Eine tränenerstickte Männerstimme  sagte:
„Du schaffst es immer wieder, unsere Herzen zu erreichen, Aaron. Gott möge dir ein langes Leben schenken.“
Aaron lächelte dankbar. Aber das konnte ja fast niemand sehen. Ebenso, dass ihn das Lob erröten machte.
Solche Momente innerer Zufriedenheit waren selten  geworden. Aarons Gedanken flogen zurück in seine Heimat Südafrika, zu  dem Dorf, in dem er mit seiner Mutter Fola und den Geschwistern auf dem  Land gelebt hatte. Als ihr Überlebenskampf immer schwieriger geworden  war, hatte Aaron sich entschlossen, nach Europa zu gehen, um dort für  die Familie Geld zu verdienen. Anfangs sträubte seine Mutter sich heftig  gegen diese Idee. Aber ihr Ältester war mit zwanzig Jahren längst zum  Mann geworden. Und wenn er sich etwas in den Kopf setzte, brachte er das  auch zu Ende. Besorgt und zugleich voller Stolz sah sie ihn an, als er  ihr von seinem Vorhaben erzählte. Dann griff sie zu einem Stück Holz und  begann, neben dem Herd die Erde aufzugraben.
„Was machst du denn da?“, hatte Aaron erstaunt gefragt.
„Warte ab“, hatte Fola geantwortet und eine Zigarrenkiste  freigelegt. Sie setzte sich auf ihr Nachtlager und winkte ihn zu sich.  Als er sich neben sie hockte, öffnete sie den Deckel. Obenauf sah er  zwei vergilbte Fotos. Sie zeigten seine Eltern bei der Hochzeit. Sein  Vater war Opfer der Apartheid geworden und in irgendeinem dunklen  Gefängnis verschwunden, weil er seine Meinung einmal zu laut geäußert  hatte. Fola nahm die Fotos heraus und legte sie neben sich. Darunter  erschien ein schmaler Fächer aus dünnen, mit Tiersehnen  zusammengebundenen Holzstäbchen, die mit Federn und bunten Holzperlen  geschmückt waren. Sie nahm den Fetisch in die Rechte und streckte ihn  über Aarons Kopf. Als er sich erstaunt wegdrehen wollte, sagte sie:
„Bleib, Aaron! Es ist nur zu deinem Besten.“
Er gehorchte, widerstrebend, denn er hatte mit diesen  Dingen nichts zu schaffen. Seit sie seinen Vater ermordet hatten, war  ihm sein Glaube abhandengekommen. Aber er liebte seine Mutter und ihr zu  gefallen blieb er ruhig sitzen. Sie vollführte einige kreisende  Bewegungen mit dem Talisman und murmelte dazu unverständliche Worte.  Aaron wollte erneut protestieren, aber sie war schon fertig.
„Und was sollte das jetzt?“, fragte er gereizt.
Sie lächelte ihn an: „Das ist ein uraltes Geschenk, das  dein Vater und ich von einem Massaikrieger bekommen haben. Er sagte zu  uns, wenn wir uns in Gefahr begeben müssten, sollten wir dieses Ritual  durchführen, es würde uns vor Unheil bewahren. Dein Vater hat nicht  darauf gehört.“ Fola schwieg einen Augenblick, bevor sie fortfuhr. „Ich  glaube einfach, dass wir nichts falsch machen, wenn wir versuchen,  wenigstens dich zu beschützen. Du wirst es brauchen, mein Junge.“
Tränen traten in ihre Augen, aber sie wischte sie mit  einem erzwungenen Lächeln weg. Dann nahm sie ein Amulett aus der  Zigarrenkiste, das an einem Lederband befestigt war. Es war aus Messing,  rund, etwa drei Zentimeter im Durchmesser. In der Mitte war ein Loch,  um das sich fünf Gesichter gruppierten.
„Das ist ein Maskenamulett“, sagte sie und hängte es Aaron  um den Hals. „Es zeigt die fünf Seiten deiner Seele: Angst, Trauer,  Wut, Erstaunen und Freude. Es soll dich immer daran erinnern, dass jedes  Ereignis in deinem Leben eines dieser Gefühle braucht. Aber es soll  dich auch vor Hass bewahren und dich froh machen.“
Aaron nahm das Amulett in die Hand und schaute es an. Sie streichelte ihm über die Wange.
„Mach dir um uns keine Sorgen“, sagte sie mit fester  Stimme. „Ich habe jetzt ein Maul weniger zu stopfen, das schaffe ich  ohne Mühe.“
Aaron wusste jedoch, dass schwere Zeiten auf sie zukamen.  Um so dringender musste er in Europa Geld verdienen. Er ließ das Amulett  unter sein Hemd gleiten. Ein letztes Mal umarmte er seine Mutter.
„Ich danke dir für alles, was du für mich getan hast. Ich hoffe, ich kann es dir bald gut machen.“
Er drückte sie sehr fest. Dann drehte er sich um, nahm seine Tasche und ging.
„Hört ihr das?“, fragte Sabélo plötzlich und riss Aaron aus seinen Träumen. Alle wurden still.
„Was meinst du?“, fragte eine Frauenstimme und Aaron antwortete.
„Der Schiffsdiesel. Die Maschine läuft nicht mehr.“
Alle redeten durcheinander. „Sind wir am Ziel? Ist die Maschine kaputt? Was ist los?“
Dann passierte eine ganze Weile gar nichts. Doch plötzlich  donnerte ein dumpfer Knall durch das Schiff. Kurz darauf hörte das  Schaukeln abrupt auf.
Das Dröhnen der metallischen Verschlusshebel ließ den  ganzen Raum vibrieren. Zwei schwere Stahltore am Heck des Schiffes, die  den Frachtraum wie bei einer Autofähre verschlossen, wurden aufgezogen  und schmer­zendes, gleißend helles Tageslicht zwang sie alle dazu, die  Augen zu schließen.
„Ach du Scheiße!“, platzte es aus Uwe Klaas heraus. Der  Schwall verdorbener Luft, der ihm aus dem Schiffsbauch entgegenschlug,  trieb ihm die Tränen in die Augen und seine Luftröhre verschloss sich  reflexartig. Er trat zur Seite, um den Würgereiz zu überwinden und  wieder atmen zu können. Sein Freund und Arbeitskollege Arne Carstensen  wedelte mit seiner Hand vor dem Gesicht herum, als könne er so die  Gerüche vertreiben.
„Oh mein Gott! Was für ein Gestank!“, sagte er und kniff  die Augen zu Schlitzen zusammen. Erschüttert schaute er kopfschüttelnd  auf die etwa achtzig Afrikaner, die dort zusammengepfercht in ihren  Exkrementen hockten.
Aaron sog gierig die frische Luft in seine Lungen. Es war  ihm gelungen, den infernalischen Geruch in seinem Kopf abzuschalten.  Erst jetzt machte ihm der un­ge­wohn­te Duft von Sauerstoff den Gestank  wieder bewusst. Als sich ihrer aller Augen langsam an das Licht  gewöhnten, nahmen sie blinzelnd erste Eindrücke der fremden Umgebung  wahr. Hinter den beiden deutschen Zoll­be­am­ten lag ein langer Pier,  dessen Ende man nicht sehen konnte. Scheinbar unendlich zogen sich die  Con­tai­ner­reihen haushoch bis zum Horizont. Die Sonne schien, und das  Blau des Himmels war die erste Farbe, die in ihrem Bewusstsein eine  erste Erkenntnis auslöste. Ihr Mar­ty­ri­um in diesem Stahlgefängnis war  vorüber, sie hatten es geschafft. Zumindest ein Teil von ihnen. Denn  nicht alle standen auf, als die deutschen Zöllner ihnen durch  Handzeichen zu verstehen gaben, den Laderaum zu verlassen. Erst jetzt  bemerkten sie einige Leichen, denn der Tod hatte unbarmherzig Ernte  gehalten. Freunde, Verwandte, Nachbarn oder Fremde, über die sie nun  nicht achtlos, so doch machtlos mit abgestumpftem Blick hinwegsteigen  mussten.
Aaron und seine Leidensgenossen betraten zum ersten Mal in  ihrem Leben europäischen Boden. Deutschland - Hamburger Hafen -  Containerterminal. Soviel wussten sie, als jeder von ihnen 3.500,-  Dollar an den Schlepper zahlte, der ihnen die Freiheit verkauft hatte.  Als Aaron hörte, dass er auf einem Frachtschiff direkt nach Deutschland  gelangen könnte, hatte er keinen Augenblick gezögert. Wie ein  Wahnsinniger hatte er in den Monaten zuvor gearbeitet und sich den Rest  des Geldes bei Freunden geliehen, um den Schlepper bezahlen zu können.
Und nun stand er hier zusammen mit seinem Freund Sabélo  und den anderen Gefährten in stinkenden Fetzen auf dem Frachtterminal  des Hamburger Hafens – und fror. Es war Anfang Mai und die für deutsche  Verhältnisse frühlingshaft-lauen achtzehn Grad waren für Aaron und seine  Landsleute fast winterlich.
„Du, den Leuten ist kalt“, bemerkte Carstensen und deutete mit einem Kopfnicken auf die schlotternden Menschen.
„Ich seh’s.“, erwiderte Klaas. „Aber wir sollten sie nicht  sofort in die Container schaffen, sonst können wir die gleich  verbrennen. Ich fordere die Sicherheitstruppe an und dann geht’s erst  mal in die Badewanne.“
Kurz darauf fuhr ein VW-Transporter mit acht weiteren  Zollbeamten vor, gefolgt von einem alten Mannschaftswagen. Freundlich  forderte man die frierenden Afrikaner auf, einzusteigen.
Auch ein Dolmetscher war unterwegs, denn auf die vielen  Fragen in Afrikaans und anderen afrikanischen Dialekten konnten die  deutschen Beamten nur mit einem entschuldigenden Schul­ter­zucken  reagieren. Aaron indes beherrschte neben seiner Landessprache Xhosa auch  Englisch. Und ab und zu hatte er auch deutsche Autos repariert und  deren Bordbücher studiert. So war er mit der deutschen Sprache  konfrontiert worden und konnte sich verständlich machen.
„Ich kann helfen“, sagte Aaron unsicher zu Uwe Klaas.
„Oh, Sie sprechen Deutsch?“, fragte der Zöllner überrascht.
„Ein bisschen“, antwortete Aaron und sprach das „Ssch“ wie beim Wort „Schiff“ aus.
„Prima“, freute sich Klaas, „dann sagen Sie Ihren  Landsleuten, dass wir sie zuerst zum Waschen bringen. Water. Cleaning“,  fügte der Beamte hinzu.
„Oh yes, shower“, sagte Aaron, der verstanden hatte.
Sabélo, dessen Größe mit über zwei Metern beachtlich war,  schob seinen muskelbepackten Körper vor Uwe Klaas und zeigte ein  strahlendes Lächeln, als er dem Beamten überglücklich die Hand  schüttelte. Dem Deutschen verschloss es erneut die Luftröhre, denn über  Sabélo flimmerte die Luft; der Gestank war unglaublich.
Aaron bemerkte das Würgen des Zöllners und zog Sabélo beiseite.
„Ist gut, Sabélo, wir müssen uns erst mal säubern“, sagte  er und nickte. Uwe Klaas war es zwar peinlich, aber er konnte nicht  anders, als zwei Schritte zurückzutreten und den Kopf abzuwenden, um  Luft zu holen.
Es dauerte fast einen halben Tag, bis die ganze Gruppe  durch die Duschen geschleust und neu eingekleidet war. Es standen zehn  Duschkabinen zur Verfügung und so spuckte die Sanitärstation immer zehn  oder zwölf Menschen wieder aus, denn es gab auch Mütter, die sich nicht  von ihren Kindern trennen wollten und gemeinsam duschten. Gleich mit der  ersten Gruppe traten Aaron und Sabélo, der seinem Freund ständig wie  ein übergroßer Schatten folgte, mit frischen Jeans und karierten Hemden  eingekleidet in den Flur der Zollstation. Schnell hatte man Aaron in die  Arbeit eingespannt, weil er gerade so viel Deutsch sprach, um  dolmetschen zu können. Dieser Umstand erwies sich als besonders  hilfreich, den deutschen Behörden verständlich zu machen, dass sie alle  politische Flüchtlinge waren und Asyl beantragten.
Der nächste Tag begann mit einem Schock. Aaron sollte nach  Dessau kommen, Sabélo nach Hannover. Als Sabélo verstanden hatte, dass  man ihn von Aaron trennen wollte, zogen sich seine Augenbrauen zusammen.  Sein immer sonniges Gemüt schien sich plötzlich in dunkle Sturmwolken  zu hüllen. Er schüttelte den Kopf und mit seiner imposanten Bassstimme  sagte er:
„Sabélo nix Hannover. Sabélo Dessau, Sabélo with Aaron!“
„Verstehen Sie doch, wir haben unsere Vorschriften. Die  Maßnahme gilt der Prävention von kriminellen Delikten durch Gruppen- und  Bandenbildung ...“, versuchte der sachbearbeitende Beamte zu erklären.  Doch Sabélo verstand das Beamtendeutsch ohnehin nicht und obendrein war  ihm völlig egal, was der Beamte ihm zu erklären versuchte.
„Sabélo with Aaron!“, donnerte Sabélos Bass durch den  Raum. Schlagartig wurde es still. Viele Köpfe drehten sich zu ihnen.
Einer der Beamten an einem Schreibtisch stand auf und  seine Hand ging zur Dienstwaffe. Aaron beruhigte seinen Freund. Nachdem  er dem Beamten mit Händen und Füßen erklärt hatte, dass Sabélo ein  einfaches Gemüt habe und er, Aaron, sich seit Kindertagen wie ein großer  Bruder um den Hünen kümmere, sah der Beamte ein, dass es vielleicht  besser sei, ein Kraftpaket wie Sabélo unter der Obhut von Aaron zu  belassen. Der junge Mann machte einen guten Eindruck.
„Also gut, wir schicken Sie beide nach Dessau“, sagte der  Zöllner. Aaron legte seinem Freund die Hand beruhigend auf den  muskelbepackten Oberarm und nickte ihm lächelnd zu. Sabélo verstand,  strahlte und schüttelte dem Beamten begeistert die Hand.
Man brachte sie in einem kleinen Reisebus über die  Autobahn nach Dessau. Sabélo starrte die ganze Zeit verzückt aus dem  Fenster, weil er in seinem ganzen Leben noch nie soviel Grün an einem  Stück gesehen hatte. Als sie an einer Raststätte anhielten, weil einige  der Leute auf die Toilette mussten, stand er außer sich vor Staunen an  den Waschbecken, bei denen man nur die Hände unter den Wasserhahn halten  musste, damit sofort Wasser floss. Gierig trank Sabélo mindestens  anderthalb Liter aus dem Hahn, während sich die überwiegend europäischen  Besucher kopfschüttelnd an ihm vorbeidrückten. Dann ging die Fahrt  weiter. Am Nachmittag erreichten sie ihr Ziel – Vackerstedt, ein kleines  Dörfchen in der Region Dessau. Schon während der Fahrt durch die  auffallend leeren Straßen wurde der Bus von feindseligen Augen verfolgt.  Jugendliche mit glattgeschorenen Köpfen und verkniffenen Mündern  fixierten das Fahrzeug. Aaron sah ihre Gesten, ihre Hände, die das  Durchschneiden des Halses andeuteten. Es war still geworden im Bus und  auch Sabélo hatte die veränderte Stimmung erkannt. Seine Augen schauten  grimmig, als er leise zu Aaron sagte:
„Lass die nur kommen. Ich bin bei dir.“
Sie bewohnten ein lang gestrecktes, doppelstöckiges  Fertiggebäude, das speziell für Flüchtlinge außerhalb der eigentlichen  Ortsbebauung errichtet worden war. Hier kamen bis zu sechzig Menschen  unter. Aaron und Sabélo teilten sich ihr Dreibettzimmer mit Babû, einem  immer lustigen und gut gelaunten Landsmann. In den ersten Tagen lebten  sie sich ein, schliefen viel, genossen das Bad, das für alle reichen  musste und auf dem Flur lag, spielten Karten und gewöhnten sich an das  fremde Essen. Sie fühlten sich wie im Paradies. Es gab fließendes Wasser  – das allein war schon alle Mühen wert. Man zeigte ihnen, wie sie an  die Einkaufsgutscheine kamen, wo der nächste Supermarkt lag und wie man  dort einkaufen konnte. Doch bei all den paradiesisch anmutenden  Bedingungen gab es einen ganz entscheidenden Aspekt, der ihre Freude  trübte – die Einheimischen. Die meisten älteren Dorfbewohner begegneten  den „Negern“ mit Skepsis oder Ignoranz. Das wäre ja noch akzeptabel  gewesen – und Aaron war davon überzeugt, daran hätten sie etwas ändern  können. Doch die Vielzahl der Jungen und Jugendlichen hatte entweder  Angst oder zeigte offen ihre Ablehnung und auch Aggression.
Aaron und Sabélo waren mit dem Bus ins Stadtzentrum von  Vackerstedt gefahren und hatten Nahrungsmittel eingekauft. In jeder Hand  eine vollgepackte Plastiktüte gingen sie schwatzend zurück zur  Bushaltestelle. Sie waren allein, setzten sich auf die Bank und stellten  ihre Einkäufe neben sich. Plötzlich erschienen sechs Männer in dunkler  Kleidung, die Köpfe glattgeschoren. Sie bauten sich auf dem Bürgersteig  vor der Bushaltestelle auf und musterten unverhohlen feindselig die  beiden Schwarzen.
„Guten Tag“, sagte Aaron. Als keine Antwort kam, sagte er in seiner Muttersprache zu Sabélo:
„Sieht so aus, als könnte es Ärger geben.“
Sabélo fixierte den größten der Männer und erhob sich  langsam. Er machte einen Schritt nach vorne, damit er mit dem Schädel  nicht gegen die Haltestellenüberdachung stieß. Die Augen der Glatzköpfe  folgten ihm. Sie mussten ihre Köpfe in den Nacken legen, um ihm ins  Gesicht schauen zu können. Sie wechselten ein paar Blicke – und zogen  sich dann wortlos und betont lässig zurück. In einigen Metern Entfernung  drehten sich die Männer noch einmal um. Sabélo streckte sich, gähnte  und legte dann demonstrativ lässig die Handgelenke auf den Rand der  Haltestellenüberdachung. Er wandte den Kopf und zeigte mit einem  wölfischen Grinsen riesige, schneeweiße Zähne, die in seinem  dunkelhäutigen Gesicht leuchteten wie Autoscheinwerfer in der Nacht. Die  Glatzen wandten sich ab und verschwanden.
„Siehst du? Kein Problem!“, sagte Sabélo belustigt.
„Die haben wir nicht zum letzten Mal gesehen, mein Freund, glaube mir“, erwiderte Aaron nachdenklich.
„Lass sie doch kommen. Mit denen werde ich schon fertig!“,  prahlte der Hüne. Und obwohl Aaron wusste, dass sein Freund es leicht  mit zehn Männern aufnehmen konnte, hatte er in den Augen dieser Weißen  etwas gesehen, das seine Seele gefrieren ließ. In ihren Herzen wohnte  ein Dämon, der unberechenbar war, jederzeit bereit, Unheil anzurichten.
Eine Woche später kamen Aaron und Sabélo erneut nach den  erledigten Einkäufen an die Haltestelle. Diesmal wurden sie offenbar  erwartet. Als sie eintrafen, stand einer der kahlen Männer dort und  musterte sie abschätzig.
„Schönen guten Tag“, sagte er spöttisch grinsend und entfernte sich.
„Guten Abend“, sagte Aaron und sah dem Fremden  nachdenklich nach. Nur Minuten später kamen aus allen Himmelsrichtungen  Glatzköpfe auf die Haltestelle zu. Ein älteres Ehepaar, das sich  ebenfalls eingefunden hatte, machte sich hastig aus dem Staub. Die  Dämmerung hatte schon eingesetzt und es begann, leicht zu regnen. Aaron  erkannte, dass sie keine Chance zur Flucht hatten. Schon war die  Haltestelle umringt. Doch diesmal waren es nicht sechs, sondern  mindestens dreißig kahlrasierte Dunkelmänner – und sie hatten  Eisenstangen und Baseballschläger dabei.
„Scheiße!“, sagte Aaron und seine Stimme zitterte. Sabélo  stand auf und trat auf die Straße. Er hob beide Hände und machte eine  lockende Handbewegung. Ansatzlos stürmten die Männer los und die ersten  Hiebe prasselten auf Sabélo nieder. Schnell hatte er zweien der  Angreifer die Arme gebrochen und die Holzschläger in seinen Besitz  gebracht. Eine wilde Schlacht entbrannte. Seine Größe und die Länge  seiner Arme waren Sabélos mächtigster Vorteil. Aber er war allein. Aaron  hatte den Lauf eines Revolvers am Hals und rührte sich nicht. Ein  Angreifer nach dem anderen ging endgültig zu Boden. Sabélo bewegte sich  mit animalischer Eleganz über das regennasse, schwarz glänzende  Straßenpflaster, in dem sich die Lichter der Straßenbeleuchtung  spiegelten. Er blutete aus mehreren Platzwunden am Kopf und aus  Schnittwunden am ganzen Oberkörper. Doch das schien ihn keineswegs zu  behindern. Als fünfzehn Glatzköpfe um ihn herum entweder ohnmächtig am  Boden lagen oder sich humpelnd und kriechend aus der Gefahrenzone  entfernten, fuhr ein Polizeiwagen heran. Die Scheinwerfer hüllten die  Szene in gelbes Licht. Sabélo triumphierte. Nun würden die Ordnungshüter  die An­ge­le­gen­heit übernehmen. Doch nichts geschah. Der Polizeiwagen  setzte sich stattdessen in Bewegung und bog in eine Seitenstraße ab.  Sabélo sah ihm ungläubig nach. In diesem Moment bellte ein Schuss durch  die Abendluft und Sabélo spürte einen explodierenden Schmerz in der  linken Schulter. Dann verlor er das Bewusstsein.
Als der Hüne wieder zu sich kam, lag er auf einem  Krankenbett, dessen Fußende man abgenommen hatte und das mit einem  zweiten Bett verlängert worden war. Sabélo blinzelte und nahm neben sich  eine Bewegung wahr.
„Sabélo? Sabélo! Du bist wach! Gott sei Dank!“, freute  sich Aaron und stand auf, damit er seinem Freund in die Augen sehen  konnte.
„Was ist passiert?“, wollte der Hüne wissen und seine Stimme klang belegt.
Aaron berichtete: „Du hast wie ein Löwe gekämpft und  dreiundzwanzig der Angreifer außer Gefecht gesetzt. Als man gewahr  wurde, dass du den Kampf gewinnen würdest, haben sie auf dich  geschossen. Deine Schulter wurde verletzt, aber nicht die Lunge. Du  wirst wieder ganz gesund.“
Sabélo grinste: „Denen haben wir es gezeigt, was?“, sagte  er mit Stolz in der Stimme. Doch dann runzelte er die Stirn, als die  Erinnerung wiederkam.
„Hast du den Polizeiwagen gesehen?“, fragte er.
Aaron nickte nur mit dem Kopf und schaute auf seine Füße.
„Wieso sind die weggefahren? Wieso haben die uns nicht geholfen?“ Sabélo verstand das nicht.
Aaron hätte sich gerne um eine Antwort gedrückt, doch er  wollte seinem Freund reinen Wein einschenken. Also sagte er:
„Einige der von dir besiegten Angreifer haben Strafanzeige  gegen dich bei der Polizei gestellt – wegen schwerer Körperverletzung.  Siebzehn von ihnen liegen auch noch hier im Krankenhaus. Und die Polizei  hat die Anzeigen angenommen. Du wirst vor Gericht kommen.“ Aarons  Stimme war immer leiser geworden. Er hatte Deutschland immer als  Paradies angesehen, aber seine Meinung hatte sich geändert. Was hier  geschah, war nicht nur unrecht. Es war hinterlistig, feige und  ungerecht. Während er berichtete, waren Sabélos Augen immer größer  geworden. Er richtete sich auf und sein ungläubiges „WAS?“ donnerte  durch das Krankenzim­mer. Mit sanftem Druck bewog Aaron seinen Freund,  sich wieder ins Kissen sinken zu lassen.
„Ich kann nicht glauben, dass dieses Land, das auf der  ganzen Welt als Beispiel für einen Sozial- und Rechtsstaat gilt, so  innerlich verfault ist“, sagte Aaron und seine Augen wurden feucht. Er  verachtete Menschen, die so unfair und niederträchtig waren. Mit solchen  Leuten wollte er nicht in einem Raum sein. Er hasste nicht, aber die  Abneigung verursachte ihm Übelkeit. Er schüttelte den Kopf, um sich von  dem Gespinst der Abscheu zu befreien, das seinen Geist umfing. Es wollte  ihm aber nicht gelingen. Kurz danach schlief Sabélo wieder ein.
Aaron machte sich auf den Weg zum Heim. Wieder musste er  mit dem Bus fahren. Am Ziel angekommen stieg er aus und machte sich auf  den Weg. Er war noch nicht weit gekommen, als ihm plötzlich fünf schwarz  gekleidete Gestalten den Weg versperrten. Aaron erkannte einige der  Männer wieder. Er drehte sich um, aber seine Flucht war bereits  unmöglich. Er war schon umstellt.
„Jetzt biste alleene, wa? Keen starker Kumpel, der Dir  helfen kann!“, höhnte der Anführer und schnippte mit den Fingern. Wieder  näherten sich mit Baseballschlägern und anderen Schlagwerkzeugen  bewaffnete Neonazis dem Dunkelhäutigen. Aaron wusste, dass es nun um ihn  geschehen war. Er hatte dieser Übermacht nichts entgegenzusetzen. Mit  der Linken griff er an seinen Hals und spürte das Maskenamulett, das  seine Mutter ihm geschenkt hatte. Es begann, warm zu werden, und  verbreitete auf seiner Haut ein Kribbeln wie von elektrischem Strom, das  über seinen ganzen Körper kroch. Aaron vermutete, das sei die  Todesangst. Er schloss die Augen und hörte, wie hinter ihm jemand nah an  ihn herantrat, scharf die Luft einsog und zuschlug. Aaron erwartete den  explodierenden Schmerz, und sein letzter Gedanke galt seiner Mutter und  seinen Geschwistern, die er wohl nie wiedersehen würde. Dann hört er  das wuchtige Rauschen, als der Baseballschläger mit voller Wucht die  Luft zerteilte. Doch nichts geschah. Aaron spürte – nichts. Ein  überraschter Aufschrei ließ ihn die Augen öffnen. Sofort gefror ihm das  Blut in den Adern. Der Skinhead hatte mit voller Wucht von hinten  zugeschlagen. Doch anstatt ihn zu verletzen, hob die Wucht des Schlages  den Mann von den Füßen und er stolperte – stolperte durch Aaron hindurch  und fiel wie ein nasser Sack mit dem Gesicht nach vorn auf den  Gehsteig.
„Was zum Teufel ...“, entfuhr es dem Anführer. Er zog  einen Schlagring aus der Tasche seiner schwarzen Lederjacke, streifte  ihn über die rechte Hand und schlug mit voller Kraft nach Aarons Kopf.  Reflexartig zuckte Aaron zurück, doch der Schlag traf ihn mitten ins  Gesicht – und fuhr hindurch. Aaron öffnete die Augen. Der Arm seines  Angreifers war unter seiner Nase in seinen Schädel eingedrungen und  ragte aus seinem Hinterkopf. Schockiert schlug Aaron nach dem Glatzkopf –  und seine flache Hand versetzte dem Aggressor eine schallende Ohrfeige.  Der Kahle riss vor Überraschung die Augen auf, dann schlug er erneut  zu. Diesmal versuchte er einen Leberhaken. Doch auch dieser Schlag ging  ins Leere und hob den Angreifer von den Füßen. Er stolperte auf die  Knie, riss den Kopf hoch und starrte Aaron mit vor Hass zur Maske  verzerrten Fratze an. Aaron durchflutete ein Hochgefühl. Während weitere  Neonazis versuchten, ihn zu verletzen, griff Aaron nach den beiden  Ohren des Anführers, die er mit beiden Fäusten umschloss und zudrückte.  Er zog den Mann auf die Beine, bis sie sich Auge in Auge  gegenüberstanden. Erst dann ließ Aaron los. Der Glatzkopf rieb sich mit  verkniffener Miene die Ohrmuscheln. In diesem Moment traf ihn der  Schläger eines seiner Kampfgenossen, der immer noch versuchte, Aaron  niederzustrecken, mit voller Wucht auf die Schulter.
„Ahh! Biste bescheuert? Siehste nicht, dass der Typ ...  was weiß ich, was der ist ... dass du ihn nicht treffen kannst?“,  brüllte der Verletzte und seine Augen sprühten vor Wut. Dann wandte er  sich wieder an Aaron:
„Wir kriegen dich! Und wenn nicht dich, dann deine Freunde. Ihr habt hier verschissen, ihr dreckigen ...“
Weiter kam er nicht, weil Aaron ihm eine zweite schallende  Ohrfeige verabreichte. Mit aufgeblasenen Backen und vor Wut hochrotem  Kopf starrte der Anführer sein Gegenüber an. Der Glatzkopf, der Aaron zu  schlagen versucht hatte, ließ den Baseballschläger fallen, drehte sich  um und rannte wie von Furien gehetzt weg. Einige seiner Kumpane folgten  ihm. Aaron sagte gefährlich leise:
„Ich euch jetzt verhexen. Oder haut ab!“
„Dreck, verdammter, lass mich bloß mit deinem Hokuspokus  in Ruhe!“, rief der Anführer und spuckte angeekelt aus. Mit dem  Handrücken wischte er sich über die Nase. Dann winkte er seinen Genossen  zu und sie verschwanden.
Aaron blieb wie angewurzelt stehen. Noch immer hielt seine  Linke das Amulett fest umschlossen. Das Kribbeln verschwand. Sein Hirn  begann langsam, das Unglaubliche zu verarbeiten. Er hatte gerade einen  Zauber erlebt, ein Wunder, das ihm das Leben gerettet hatte. Bisher  hatte er zu den religiösen Traditionen seines Volkes immer ein  gespaltenes Verhältnis gehabt. Ihm war es immer so vorgekommen, als  missbrauchten die Schamanen den Glauben an die Götter und ihren Zauber  zum eigenen Vorteil. Doch was er gerade erlebt hatte, konnte er sich  nicht erklären. Er schloss die Augen und die wilde Freude, noch am Leben  zu sein, paarte sich mit einem überwältigenden Gefühl der Dankbarkeit.

Etwa neuntausend Kilometer entfernt blickte Fola in den Nachthimmel.  Ihre Linke umfasste ein Amulett.
Es glich dem von Aaron wie ein Ei dem anderen. Fola  schloss die Augen und eine Träne rann über ihr glückliches Lächeln.        

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